• Suche
  • 0 Wunschliste
  • 0 Warenkorb

Tjosten: Ein neuer Trendsport mit langer Tradition

Zeitgenössische Abbildung eines um 1390 durchgeführten Tjosts am Hofe von Richard II.Unter Historikern und Forschern erfreut sich das Thema „Vergangenheit“, von der Steinzeit bis zum Zweiten Weltkrieg, grundsätzlich großer Beliebtheit, unter anderem deshalb, weil es sich als nie versiegender Quell mannigfaltiger Untersuchungen erweist.

Doch insbesondere für die Materie „Mittelalter“ interessieren sich seit geraumer Zeit auch viele „normale“ Menschen. Anstatt lediglich hochinteressante, aber manchmal etwas trockene Ausstellungen zu besuchen, begeistert sich der moderne Homo sapiens verstärkt für erlebbare Aktivitäten. Mittelaltermärkte ziehen Schaulustige an, von denen an dieser Stelle vielleicht manch einer seine neue Berufung als Gaukler, Feuerspucker oder sogar Schaukämpfer entdeckt, während andere in den Bereichen Reenactment (einfach ausgedrückt: Die möglichst authentische Darstellung historischer Schlachten) und Living History (hier wird das alltägliche Leben einer Epoche oder Periode akkurat nachgestellt) aufgehen. Und selbstverständlich gibt es auch Zeitgenossen, welche das Risiko lieben und mittelalterliches Kräftemessen über den Schaukampf mit speziellen Schaukampfschwertern hinaus im wahrsten Sinne des Wortes auf die Spitze treiben. Auf die Lanzenspitze.

Ein mittelalterliches Spektakel erlebt seine Renaissance als Trendsport

Modernes Tjosten / Quelle: Wikipedia | © PretzelpawsJa, das mittelalterliche Tjosten – vielen als Lanzenstechen bekannt – erfreut sich tatsächlich einer wachsenden Beliebtheit. Derzeit schätzt man die Zahl derer, die das Tjosten als Vollkontakt-Sport ausüben, weltweit auf gut 200 Personen, die meisten in Nordamerika, England, Australien und Neuseeland. Darüber hinaus betreiben schätzungsweise einige Hundert Menschen das Tjosten in Form von Stunts mit einstudierter Choreographie. Auch in Deutschland steckt das Tjosten noch in den Kinderschuhen, hierzulande sind es ebenfalls meistens organisierte Stunt-Teams mit hohlen, leicht zersplitternden Lanzen, die das Tjosten für die Zuschauer eindrucksvoll in Szene setzen. Solche Stunt-Reiter kann man ferner in vielen anderen europäischen Ländern wie Frankreich oder Italien im Rahmen von Ritterspielen oder Burgfesten sehen. Bei derartigen Veranstaltungen sind Verletzungen eher die Ausnahme, ganz anders als beim Vollkontakt-Tjosten.

Der Tod sitzt mit im Sattel

Modernes Tjosten / Quelle: flickr | © Jeff KubinaDoch wie gefährlich war und ist diese Art des „Kräftemessens“, des Ringens um Anerkennung tatsächlich? Dieser Frage sind Dr. Tobias Capwell, Kurator für Waffen und Rüstungen im Dienste der Londoner Wallace Collection und sein Kollege, Archäometallurg Alan Williams mit großem persönlichen Interesse nachgegangen. Ihrer Meinung nach musste das Tjosten in der Tat sehr gefährlich gewesen sein, denn schließlich wurde schon 1292 das „Statutum Armorum“ erlassen, wonach Lanzen stumpf sein mussten und vom Pferd gestoßene Gegner nicht mehr attackiert werden durften. Offenbar hatte mancher Herrscher schon zuviele edle Ritter beim Tjosten verloren, denn ursprünglich kämpften die Ritter bis zum Tod („joust a l’outrance“). Zeitweise verboten nicht nur Fürsten oder Regenten, sondern sogar der Papst das Tjosten völlig! Doch diese Zustände waren nie von langer Dauer. Im Zuge diverser Reglementierungen wurden sogar spezielle Rüstungen wie das Stech- und Rennzeug entwickelt, die ausschließlich für verschiedene Formen des berittenen Zweikampfs gedacht waren.

Wo rohe Kräfte sinnvoll walten

Walther von Klingen, Codex Manesse (um 1300)Die Ergebnisse ihrer Tests sind verblüffend. Bei einem Versuchsaufbau, bei dem aus vollem Galopp ein schwingendes Pendel getroffen werden musste, um die Energie des Aufpralls zu messen, ergaben die Messungen, dass selbst moderne Sicherheitswesten dieser Wucht nicht gewachsen sind. Vor allen Dingen die Verwendung eines Rüsthakens verstärkte die Aufprallenergie. Mit der Vorrichtung, mit der die bis zu viereinhalb Meter lange sowie 15 Kilogramm schwere Lanze mit weniger Kraftaufwand stabil an der Rüstung gehalten werden konnte, erreichte Dr. Tobias Capwell einen Maximalwert von stattlichen 208 Joule (eine Pistole der Marke Walther, Modell P99 erreicht 490 Joule), durchschnittlich 140 Joule. Ohne Rüsthaken lag der Durchschnittswert „nur“ noch bei 103 Joule. Angesichts des Maximalwerts von 100 Joule für den Stichschutz einer modernen Sicherheitsweste beachtliche Zahlen, die auf ernsthafte, wenn nicht sogar tödliche Verletzungen schließen lassen.

Zu den prominenteren Opfern des Tjostens zählte beinahe auch Heinrich VIII. aus dem Hause der Tudors. Dieser hätte seinen sportlichen Ehrgeiz fast mit dem Leben bezahlt, als ihn im Jahre 1524 eines Gegners Lanze knapp über dem Auge traf, weil er sein Visier nicht geschlossen hatte. Am 24. Januar 1536 wurde er von seinem gepanzerten Pferd gestoßen, welches auf ihm landete. Daraufhin war Heinrich VIII. zwei Stunden bewusstlos und wurde zunächst für tot gehalten. Weniger Glück hatte der französische König Heinrich II., ihn ereilte das Schicksal am 30. Juni 1559 anlässlich der Feier des Friedensvertrags mit den jahrelang befehdeten, österreichischen Habsburgern: Ein Splitter des zerbrochenen Lanzenstumpfes von Gabriel de Lorges, Graf von Montgomery, durchbohrte das Visier und drang durch das Auge bis in das Gehirn vor.

Der zeitgenössische englische Schriftsteller und Historiker Raphael Holinshed schrieb im 16. Jahrhundert von einem gewissen, wegen seiner Kampfkünste und Kraft gefürchteten, Sir Robert Morley, der das Zeitliche segnete. Angesichts der erwähnten Ergebnisse der Untersuchungen von Dr. Tobias Capwell und Alan Williams erlag dieser wahrscheinlich seinen schwerwiegenden inneren Verletzungen – und starb wohl eher nicht vor Scham, wie es der Historiker der Nachwelt erhielt.

Weiterführende Links und Informationen:

zurück nach oben